Ragazzi
, 2003 12: AM
Sechs Jahre brauchten die Ungarn, um an den Vorgänger "6" anzuschließen. 6 Jahre, in denen sich eine Menge getan hat. Die Klassik-Rocker mit der Kunst, symphonische Epen dramatisch und eindrücklich zu inszenieren, haben nichts verlernt, wie sollten sie auch. Die letzten Jahre waren mit intensivem Touring gefüllt, ein fabelhaftes Livealbum nicht zuletzt gab davon Kenntnis. Mit dem ungarischen Symphonieorchester, dem einige Bandmitglieder selbst angehören, haben sie die "Bootleg-Symphony" eingespielt. Aktivitäten genug. Und jetzt ist die Band mit der "After Crying Show" zurück. Um es gleich zu sagen, After Crying haben viele Popelemente integriert, die gerade den Dance-Markt bestimmen. Rapgesang, Dancefloor-Rhythmen aus dem Rhythmuscomputer, moderne Sounds - und dennoch ist die Show ein gutes Beispiel dafür, wie Symphonic Rock heute funktionieren kann. After Crying stehen für dramatischen Tiefgang, kompositorisch erstklassige Arbeit, klassisch geprägtes und spannendes Arrangement und instrumentale Obsessionen, die die Nackenhaare zu Berge treiben. Das hat sich im Prinzip nicht geändert, die Popelemente ergänzen lediglich den symphonischen Rock der Ungarn. Doch sie nehmen den Dramen den Ernst, die Tiefe und Schwere und geben dieses leichte, flotte Element dazu, das sich heute durch alltägliche Radiokanäle schlängelt. Geschuldet ist dies sicher nicht nur den Jahren und der Entwicklung der involvierten Musiker, sondern der Story, der After Crying Show. Das lyrische Konzeptwerk ist mindestens so aufwändig gestaltet wie die Musik. Es geht um die "neue" Zeit, um Medien, Globalisierung, Werteverlust, Internet & Computer. Ohne den Zeigefinger zu erheben, ohne moralinsaure Predigten auszuposaunen, gelingt es der Band, eine mitreissende Geschichte anschaulich zu erzählen, nachvollziehbar und tiefgreifend. Die Musik klammert sich um die Lyrics, dramatische Themen werden expressiv und wahnsinnig orchestral inszeniert. Was allein der große Bläsersatz in den ausufernden, rhythmisch betonten und schweren Tiefen mitsamt dem (Computer-)Orchester abliefert, ist atemberaubend! Immer wieder kommen diese irren, tränentreibenden Sätze, die in symphonischer Melancholie gipfeln oder auch mal in poppiger Liedhaftigkeit versinken. Als würden King Crimson mit wagnerianischer Wucht Schostakovich covern (Invisible Legion, Face To Face, Bone Squad). Die Interpretation eines Themas wechselt stilistisch auch schon mal, wie in "Remote Control" - wo Dancefloor in Hardrock übergeht, sich zum Jazzrock/Fusion verändert und nach deftigem Funk leise im Jazz abschließt. Das Arrangement ist den Lyrics geschuldet. Innerhalb der Geschichte werden verschiedene stilistische Motive benutzt. Die Band will damit wohl vermitteln, dass es heute egal ist, welche stilistische Orientierung man sich aussucht, jede Komposition kann in jedem Genre funktionieren, wenn man genug daran arbeitet. Eine interessante und gefährliche Sache. Und wenn die Band im Opener "New World Coming" meint, "...eine neue Welt ist gekommen und die alte ist gegangen..., ich will meine alte Welt zurück...", wird niemand im Ernst meinen wollen, die Ungarn wollten ihr altes politisches System oder ähnliches zurück. Die Sache ist gegessen. Sie wollen, dass die Welt auf dem Teppich bleibt und nicht in eigener Sache, agressiver Globalisierung & Co., absäuft. Dem kann ich mich nur anschließen. Trotz der vielen, kunstvoll eingegossenen Popelemente ist "After Crying Show" ein wirklich progressives Symphonic Rock Album voll Überraschungen, oftmals sehr liedhaft, auch schon mal sehr süß und lieblich. Doch immer wieder findet die Band zu klassischem Progressive Rock zurück, der nicht Neoprog-Traditionen, sondern eher den Früh-Siebzigern verpflichtet ist. Die Interpreten sind an ihrer Schule zu erkennen, allein das Piano kann nur von einem klassisch ausgebildeten Musiker so gespielt werden. Auch die ausdrucksvollen Arrangements, die zwischen dramatischer Wucht und lyrischer Stille dynamischen Tiefgang erfahrbar machen, sind voll klassischer Struktur. "After Crying Show" ist trotz der Funk- und Pop-Elemente ein fabelhaftes Symphonic Werk. Leider nur, das größte Leider an dieser Produktion ist das Fehlen der sonst üblichen, ausufernden und wunderschönen Cello-Soli von Péter Pejtsik, einem der beiden Komponisten der Band. Hier und dort sind Schnipsel seines Cello-Spiels integriert, doch diese Schnipsel machen nur Appetit auf mehr und das Vermissen der langen Soli um so deutlicher. Gewiss wird die "After Crying Show" erfolgreich sein, die Strenge der Kompositionen ist durch die vielfältigen modernen Elemente gemildert und die Mainstream-Fraktion wird die Band für sich entdecken. Sollte man unbedingt gehört haben.
Volkmar Mantei
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