Progressive Newsletter
, 2003 12: AM
Versuche klassische Musik und Progressive Rock zusammenzuführen, hat es schon viele gegeben. Zwei Ansätze sind dabei denkbar: Eine Möglichkeit ist die Adaption eines klassischen Werkes (z.B. ELP mit "Pictures at an exhibition"), die zweite Möglichkeit besteht darin, dass eine Band die eigenen Stücke in Verbindung mit einem Sinfonieorchester (z.B. Yes mit "Magnification") spielt. Leider enden beide Ansätze häufig in einem Desaster, denn im ersten Fall reicht häufig das technische Vermögen nicht aus, im zweiten Fall werden oft die eigenen kompositorischen Fähigkeiten maßlos überschätzt und die Orchesterbegleitung verkommt zu einem nutzlos Beiwerk (wer sich wie auch ich immer wieder über diese CDs "The London Symphony Orchestra plays ..." geärgert hat, kann das nachvollziehen). Nun wagen sich also auch die ungarischen After Crying an ein solches Experiment. Die CD enthält einen Live-Mitschnitt eines Konzerts, das im Oktober 2000 an der Liszt Ferenc Academy of Music in Budapest stattfand. Die Band wurde dabei von mehreren Solisten und einem kompletten Orchester unterstützt. Wie auch auf der letzten Studio-CD wurden mehrere kurze Stücke zu insgesamt vier Blöcken mit Längen zwischen 10 und 16 Minuten zusammengefasst. Unter den verwendeten Themen befinden sich bekannte Klassiker der Band wie "Arrival of the Manticore", "Struggle for life" oder "Viaduct". Nach dem Start der CD hatte ich das Gefühl, selber im Konzertsaal zu sitzen, so eindringlich wirkt diese Live-Aufnahme. After Crying spielt sich nicht in den Vordergrund, sondern lässt den einzelnen Solisten bzw. dem Orchester gleichermaßen Raum. Die komplexe Musik der Band gewinnt eine völlig neue Bedeutung. "Zeitgenössische, moderne Musik", so beschreibt After Crying selber den eigenen Musikstil. Und wirklich, E- und U-Musik verschmelzen hier gekonnt, es gibt keine peinlichen Momente zu überstehen. Wer immer noch der Meinung ist, das Progressive Rock niemals die Ernsthaftigkeit klassischer Musik erreichen kann, wird hier eines Besseren belehrt. Band und Orchester wirken wie eine Einheit, als hätten sie schon immer nichts anderes getan, als gemeinsam Konzerte zu geben. Leider ist mir nicht bekannt, welche Vorbereitungen und Proben dafür notwendig waren. Es ist schon ungewöhnlich: Während Yes mit "Magnification" gleiches probiert und insgesamt auch überzeugt, zeigt diese eher unbekannte ungarische Gruppe, dass sie sowohl von Kompositionen, als auch von der Umsetzung her in einer ganz anderen Liga spielt. Dennoch muss ich zur Vorsicht raten: Wer mit der nicht immer eingängigen Musik von After Crying bisher nichts anfangen konnte, der wird auch mit der neuen CD nicht glücklich. Allen anderen sei diese Reise in die Welten der anspruchsvollen, kontemporären Musik sehr an Herz gelegt.
Meinhard Foethke
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