Ragazzi
Nov , 2004 12: AM
Das Fugato Orchestra ist ein ungewöhnliches, junges Ensemble begabter Musiker aus Budapest, Ungarn. Die sehr jungen Musiker scheinen zum großen Teil noch zur Schule zu gehen. Violine, Viola, Violincello, Gitarre, Kontrabass, Flöte, Blockflöte, Trompete und Oboe sind die klassischen Instrumente, die teilweise mehrfach besetzt sind (so je dreimal 1. und 2. Violine, zweimal Viola, drei Celli). Zudem gibt es das Rockinstrumentarium Bass, Schlagzeug, Perkussion, Keyboards und Marimba. Drei Sänger (beziehungsweise Sängerinnen) singen Sopran, Alt und Tenor. Ein modernes Unternehmen, dieses Fugato Orchestra, das stilistisch keine Hürden kennt und sich über eingefahrene Klangvorstellungen hinwegsetzt, dabei stets Stil und Qualität wahrt.
Die 15 Tracks auf "Neander variations" sind Kompositionen des Orchesterchefs und Keyboarders Alpár Balázs, der nicht viel älter als seine Begleiter ist. Alle involvierten Musiker haben eine klassische Ausbildung genossen, beziehungsweise sind noch dabei. Alpár Balázs hat klassische Musik und Jazz studiert. Sein Interesse ist diversen Stilen, vor allem Jazz und Prog Rock, verpflichtet. Die Stücke auf "Neander variations" sind stilistisch im weiten Feld zwischen Klassik, Jazz, Rock und Elektronik zu Hause, also überall und nirgends.
Der große Klangkörper der natürlichen Instrumente gibt den Kompositionen einzigartige Tiefe, Frische, Heiterkeit und Farbe. Das hat nichts mit sonstigen Orchesterarbeiten zu tun, die Jethro Tull oder Genesis in klassische Arrangements verkleidet covern. Diese authentischen und originären Stücke sind durch ihre schwelgerische Unvergleichlichkeit und jugendliche Leichtigkeit interessant. Frisch und straff gespielt, klingen die Songs, abgesehen davon, ob sie nun heiterer, fröhlicher oder melancholischer, düsterer Natur sind, sehr forsch und dynamisch. Die Lust an der Interpretation ist jeden Augenblick zu hören. Das große Ensemble hat sicher so seine Erfahrungen gemacht, gemeinsam und allein, mit dem Einüben der anspruchsvollen Noten, dem Entwickeln des Ensembleklanges, dem Einspielen der Songs im Studio. Die Jugend der Musiker hat gewiss dazu beigetragen, dass der Ensembleklang so mitreißend lebendig und virtuos geraten ist.
Hin und wieder klingt etwas After Crying aus den Arrangements, leichte Anklänge an Solaris sind auszumachen, aber das wären die Gemeinsamkeiten mit anderen Bands auch schon. Nicht viel, das spricht für das Orchester und für Alpár Balázs.
Schlagzeug und Bass passen genau wie die Keyboards perfekt in das Orchester. Die drei (klassischen) Sänger vollenden die wenigen Stücke, in denen sie singen, sehr interessant. Die Kompositionen sind zumeist packend und von direkter, kraftvoller Natur; fröhlich, verspielt und in ihrer Dynamik wild und beinahe ungezügelt. Teilweise sind einige Dancefloor Rhythmen in Arrangement verwoben, die dem ganzen Werk und dem Einzelstück keinen Schaden antun und nicht billig klingen, sondern im Gemeinklang mit dem Streicherensemble für Vitalität und Musikalität sorgen. Zumeist jedoch sind differenziert gespieltes Rock-Schlagzeug und elektrischer Bass als Rhythmusbasis ins Spiel einbezogen.
Etliche Themen sind sehr romantisch. Zwar haben die Ungarn eine Vorliebe für scharfen Paprika und sind mit ihrer Lebendigkeit eines der vitalsten (und zudem der schönsten) Völker Europas, doch in der Musik, vor allem der Rockmusik sind sie eher romantisch, harmonisch, melodisch. Diese Platte macht da keine Ausnahme. Der symphonische Klang der natürlichen Instrumente ist fantastisch, dazu Keys, Rhythmuscrew und klassisches Sängertrio - alle Achtung, Alpár Balázs und das Fugato Orchestra sind nur zu loben.
Das Album hat eine völlig andere Qualität als beispielsweise die Musik der Holländer Ekseption. Hier werden keine klassischen Hits verrockt. Das Fugato Orchestra spielt eigene, moderne und gleichzeitig zeitlose Songs, deren Arrangements zwischen beiden Welten, Klassik und Rock, mäandern, beide Stile bevorzugen und einen eigenen, lyrischen Klang daraus entwickeln. Das hat nicht im Ansatz auch nur einen Hauch von Kitsch, sondern ist faszinierend in kraftvoller Virtuosität.
Aber damit nicht genug, gibt es neben dem CD-Programm einen riesigen, sehr umfangreichen und fantastisch aussehenden Multimediatrack mit englischem Interview, vielen Bildern, 3 Videos sowie etlichen MP3-Tracks, die in 4 Kategorien aufgelistet wurden: 1. klassische, wunderschöne, Madrigal-typische Choräle, 2. Live-Aufnahmen, 3. historische Background-Musik, die auf die Geschichte Béla IV. beruht, dem ungarischen König von 1235 bis 1270, der das ungarische Volk einte sowie 4. Sonstiges, worunter ältere Aufnahmen (die stilistisch zwischen Solaris und After Crying liegen), Demonstrations-Musik, Humor, Dancefloor und Rock zu finden sind. Diese Materialfülle und unglaubliche Perfektion scheinen nicht von einem so jungen Ensemble stammen zu können. Aber sie stammen!
Hoffentlich wird Periferic Records Chef Gregory Böszörmény nicht wieder Bänder des Orchesters über ein Jahr lang herum liegen und einstauben lassen!
Dringende Empfehlung!
Volkmar Mantei
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